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Quellenblatt: Essen im Zeitalter der Industrialisierung - Einwanderung ins Ruhrgebiet

M1. Bevölkerungsstatistik.

Polnische Bevölkerung im Rheinland und in Westfalen.

 

Jahr

Personen

1890

35 684

1900

142 714

1905

204 687

1910

303 876

Zahlen entnommen aus: Murzynowska, Krystyna: Die polnische Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, Dortmund 1979, S. 30.

M2. Anwerbeplakat, 1908.

Ein Plakat, das in den Masuren aushing, um Arbeiter für das Ruhrgebiet anzuwerben. Auftraggeber für das Plakat war die Zeche Victor bei Rauxel.

„Masuren!

In rein ländlicher Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen guter Luft, liegt, ganz wie ein masurisches Dorf, abseits vom großen Getriebe des westfälischen Industriegebietes, eine reizende, ganz neu erbaute Kolonie der Zeche Victor bei Rauxel. Diese Kolonie besteht vorläufig aus über 40 Häusern und soll später auf etwa 65 Häuser erweitert werden. In jedem Hause sind nur 4 Wohnungen, zwei oben, zwei unten. Zu jeder Wohnung gehören etwa 3 oder 4 Zimmer. [...] Zu jeder Wohnung gehört ein sehr guter, hoher und trockener Keller, so daß sich die eingelagerten Früchte, Kartoffeln etc. sehr gut erhalten werden. Ferner gehört dazu ein geräumiger Stall, wo sich jeder sein Schwein, seine Ziege oder seine Hühner halten kann. So braucht der Arbeiter nicht jedes Pfund Fleisch oder seinen Liter Milch zu kaufen. Endlich gehört zu jeder Wohnung auch ein Garten von etwas 23 bis 24 Quadraturen. So kann sich jeder sein Gemüse, sein Kumpust (Sauerkohl) und seine Kartoffeln, die er für den Sommer braucht, selber zu ziehen. Wer noch mehr Land braucht, kann es in der Näher von Bauern billig pachten. Außerdem liefert die Zeche für den Winter Kartoffeln zu billigen Preisen. Dabei beträgt die Miete für ein Zimmer (mit Stall und Garten) nur 4 Mark monatlich, für die westfälischen Verhältnisse jedenfalls ein sehr niedriger Preis. [...]

In der Kolonie wird sich in nächster Zeit auch ein Konsum befinden, wo allerlei Kaufmannwaren [...] zu einem sehr billigen Preis von der Zeche geliefert werden [...]. Für die Kinder sind dort 2 Schulen erbaut worden, so daß sie nicht zu weit laufen brauchen, auch die Arbeiter haben bis zur Arbeitsstelle höchstens 10 Minuten zu gehen. Bis zur nächsten Bahnstation braucht man etwa eine halbe Stunde. […]“

[Es folgt eine Auflistung der Verdienstmöglichkeiten, der Text geht weiter:]

„Man sieht also, dass jeder Arbeiter gut auskommen kann. Wer sparsam ist, kann noch Geld zur Sparkasse bringen. Es haben sich in Westfalen viele Ostpreußen mehrere Tausend Mark gespart. Das Geld ist dann wieder in die Heimat gekommen, und so hat die Heimat auch etwas davon gehabt. Überhaupt zahlt diese Zeche wohl die höchsten Löhne. [...] Entlassungen masurischer Arbeiter werden, außer dem Falle grober Selbstverschuldung nicht vorkommen. Masuren! Es kommt der Zeche hauptsächlich darauf an, brave, ordentliche Familien in diese ganz neue Kolonie hineinzubekommen. Ja, wenn es möglich ist, soll diese Kolonie nur mit masurischen Familien besetzt werden. So bleiben die Masuren ganz unter sich und haben mit Polen, Ostpreußen usw. nichts zu tun. Jeder kann denken, daß er in seiner östlichen Heimat wäre. Es gibt Masuren, die bei der Zeche schon lange tätig sind und sich bei der anständigen Behandlung wohl fühlen. Als Beweis wird in Masuren bald ein solcher Arbeiter erscheinen.

Jede Familie erhält vollständigen freien Umzug, ebenso jeder Ledige freie Fahrt. [...] Überlege sich also ein jeder die ernste Sache reiflich! Die Zeche will keinen aus der Heimat weglocken, auch keinen seinen jetzigen Verhältnissen entreißen; sie will nur solchen ordentlichen Menschen, die in der Heimat keine Arbeit oder nur ganz geringen Verdienst haben, helfen, mehr zu verdienen und noch extra zu ersparen, damit sie im Alter nicht zu hungern brauchen.“

Zitiert nach: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen: Interkulturelles Lernen, in: Emer, Wolfgang; Hors, Uwe (Hrsg.): Praxis eines demokratischen Geschichtsunterrichts. Perspektiven – Lernorte – Methoden, Bielefeld 1995, S. 119-136.

Konsum: Einkaufsladen.

M3. Lokalchronik (in Auszügen) Bottrop, 1911.

Viele polnische Arbeiter immigrierten nach Bottrop im Ruhrgebiet. Der Auszug berichtet über die Werber, die Arbeitskräfte für die Zechen anwerben sollten und behandelt die Anfangzeit der Einwanderung.

„Der erste derartige Agent kam nicht lange nach dem Kriege nach Oberschlesien. Er erreichte jedoch nicht viel, da er Deutscher und der polnischen Sprache nicht mächtig war. So brachte er nur 25 Bergleute, hauptsächlich aus dem Kreise Rybnik, mit sich. Das war im Januar 1871. [...] Selbstverständlich reichten diese neu zugezogenen Kräfte bei weitem nicht zur Deckung des Bedarfs aus; deshalb fuhr ein neuer Agent los. Diesmal war es ein Pole namens Karl Silwka. [...] Mit ihm kamen 400 polnische Bergleute nach Bottrop, die in dem gleichen Gebäude untergebracht wurden. Diese Reise fand im Mai 1871 statt. [...]“

[In den folgenden Jahren brach die Konjunktur ein. Die Chronik berichtete weiter:]

 „Mit dem Sturze der Konjunktur kehrten viele polnische Arbeiter wegen zu geringen Verdienst in die Heimat zurück, so daß auf den hiesigen Gruben bald danach wieder Mangel an Arbeitern bestand. Es schien deshalb den Bergwerksbesitzern das beste, noch einmal einen Agenten nach Oberschlesien zu senden, und zwar diesmal Leopold Kowalik.“

[Es wird berichtet, wie weiter polnische Arbeiter ins Ruhrgebiet auswandern. Die Chronik berichtete weiter:]

 „Die Ankunft dieser polnischen Arbeiter fiel in das Jahr 1875. In dem gleichen Jahr begannen diejenigen polnischen Arbeiter, die schon längere Zeit in Bottrop wohnten und sich etwas erworben hatten, ihre Familien aus der Heimat in die Fremde zu holen. Nicht alle konnten sogleich von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, aber langsam und vereinzelt zogen die Familien zu, so daß sich in Bottrop im Jahre 1876 ca. 20 polnische Familien befanden. Und so kann man jetzt sagen, daß mit diesem Jahr, in dem die polnischen Familien im Herzen Deutschlands zu leben begannen, das hiesige Polentum seine Existenz wie eine Pflanze in fremder Erde begann.“

Zitiert nach: Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945, Göttingen 1978, S. 38.

M4. Zeitungsartikel (in Auszügen) aus der polnischsprachigen Zeitung Wiarus Polski, 8. Oktober 1891.

„Die Leute sagen selbst, daß sie liebendgern in der Heimat blieben, selbst wenn ihre Arbeit dort schlechter bezahlt würde als in der Fremde. Doch zu Hause finden sie gar keine Arbeit; deshalb suchen und finden sie in der Fremde. Und es ist keineswegs so, wie es allgemein verbreitet wird, daß der Pole im Ausland nur Elend kennenlernt. Wenn dem so wäre, ginge er schon nicht dorthin. Aber im Gegenteil: Unsere Landsleute in Westfalen sparen eine ganze Menge Geld, und dieser Umstand ist ebenfalls ein Grund zur Auswanderung. Viel Geld haben sie bereits ihren Familien nach Hause ins Großherzogtum Posen geschickt. Dies ist unsere soziale Leistung, die man nicht gering achten sollte [...] Der größere, ja der überwiegende Teil der polnischen Emigranten in Westfalen, das sind keine Liederjahne und Herumtreiber, die zu Hause keine Lust hatten zu arbeiten; es sind im Gegenteil fleißige, solide, ehrliche Menschen – und das kann man getrost von allen Auswandern sagen. [...] Sie sitzen dort nicht zum Spaß und weil sie der Abwechslung nachlaufen; denn dort gehen sie einer so schweren Arbeit nach, wie man sie in der Heimat gar nicht kennt. In den Gruben arbeiten sie tagsüber, aber auch in den Nächten. Sie arbeiten unter der Erde in dumpfiger Luft, von Gas und Wasser bedroht, oft brechen sie sich die Knochen und gehen ihres Lebens verlustig. Das Geld, das sie sparen, ist blutig erarbeitet. Diese Leute verdienen Hochachtung und nicht Verdammung.“

Zitiert nach: Murzynowska, Kryystyna: Die polnische Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, S. 314-315.

Liederjahn: Veraltet für "Nichtsnutz".


M5. Artikel aus der polnischsprachigen Zeitschrift Gornik. Polnische Zeitschrift für Bergarbeiter, 1887.

Gornik setzt sich für die Verbesserung der Lebensumstände der Polen ein. („Gornik“ ist polnisch und bedeutet übersetzt „Bergmann“)

„Warum verlassen so viele polnische Kameraden ihr Heimatland? Deshalb, weil der Lohn dort nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Dies ist nicht humanitär, ist nicht christlich, wenn man den Arbeiter einen solch niedrigen Lohn zahlt, daß der Arbeiter gezwungen ist, zusammen mit der Familie die Heimat zu verlassen, um einen höheren Lohn in der weiten Welt zu suchen; und deshalb wird Gornik im Namen der Menschlichkeit, im Namen der Nächstenliebe die Hütten- und Zechenbesitzer dazu aufrufen, den armen polnischen Arbeiter nicht die Hölle aus der Heimat zu machen. Jeder Mensch liebt das Stückchen Erde, wo er geboren wurde; den polnischen Arbeiter treibt der niedrige Lohn in die fremde Gegend, unter fremden Menschen. Das muss aufhören!“

Zitiert nach Hans Jürgen Brandt (Hrsg.): Die Polen und die Kirche im Ruhrgebiet 1871-1919, Münster 1987, S. 134-136.