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Quellenblatt: Essen 1943 - "Battle of the Ruhr" - Unterschiedliches Erinnern

Im Sommer 2008 wurden eine deutsche Gymnasialschülerin und ihre polnische Altersgenossin interviewt. Das Thema des Gesprächs waren „Bombenangriffe auf das Ruhrgebiet“. Das Ergebnis dieses Interviews sehen Sie in Form einer Zusammenfassung.

M1. Interview: Paulina, 16 Jahre alt, Allgemeinbildendes Lyzeum, Warschau.

„Die Bombenangriffe auf das Ruhrgebiet? Hmmm… ich weiß nur, dass die deutschen Städte sehr zerbombt waren, aber die Details kenne ich nicht. Die Alliierten wollten die deutsche Industrie zerstören, damit die Deutschen nicht mehr Waffen herstellen konnten. In das Ruhrgebiet waren viele Zwangsarbeiter von den Nazis verschleppt worden; viele sind nicht mehr nach Hause zurück gekommen. Unter ihnen waren auch viele Polen, die von den Luftangriffen betroffen waren.

Wenn ich an die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg denke, fallen mir eher die Informationen über das Schicksal der polnischen Hauptstadt ein, wo ich seit meiner Geburt lebe. Wenn ich meine Stadt heute sehe, kann ich nicht glauben, dass auf den Straßen, die ich jeden Tag entlang gehe, so viele Trümmer lagen. Meine Familie war nicht direkt durch die Bombenangriffe betroffen. Meine Urgroßeltern verbrachten den Zweiten Weltkrieg auf dem Lande; sie haben mir viel über ihre Erfahrungen aus dieser Zeit erzählt, allerdings nicht von den Bombardierungen. Über die Bombenangriffe habe ich aus Büchern, dem Fernsehen und dem Unterricht erfahren. Wir waren auch mit unserem Geschichtslehrer im Museum der Stadt Warschau, wo ich die Bilder der zerstörten Hauptstadt Polens gesehen habe. Die Museumsführerin hat uns vom Alltag der Menschen während der deutschen Bombardierungen im September 1939 und dann während des Warschauer Aufstands im Jahr 1944 erzählt. Sie lebten im Keller, es gab keine Lebensmittel; sie hatten ständige Angst, viele sind ums Leben gekommen. In Warschau gibt es viele Gedenktafeln, die an die Opfer der Nazis erinnern. Ich finde es richtig; diese schreckliche Zeit darf nicht vergessen werden.“

M2. Interview: Antonia, 16 Jahre alt, Gymnasium, Hannover.

„Deutschland wurde während des Krieges sehr zerbombt, viele Städte waren bis auf die Grundmauern zerstört. Die Zivilbevölkerung war sehr betroffen. Mein Vater erzählte mir, dass seine Oma sich sehr oft an die Bombardierungen in Bochum erinnerte. Ihre Schwester hat diese Zeit nicht überlebt. Sie befand sich in einem Luftschutzraum, auf den direkt eine Bombe fiel. Alle Menschen, die dort den Schutz vor Bomben suchten, waren tot.           

Ich lernte meine Uroma nicht mehr kennen. Ich weiß aber, dass es für sie eine furchtbare Zeit war. Ich wohne nicht in Bochum. Seit ich Fünf bin, lebe ich in Hannover, der Stadt, die durch Bombardierungen auch zerstört wurde. Wir haben im Unterricht über die Luftangriffe aufs Ruhrgebiet gelernt, mehr jedoch erfuhren wir über die Anschläge auf Hannover. Unsere Lehrerin hat sogar eine Frau eingeladen, die uns über Ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges berichtet hat.

Ich bin der Überzeugung, dass die Nazis Schuld am Zweiten Weltkrieg tragen, die von Deutschen in demokratischen Wahlen gewählt wurden. Ich mache sie auch verantwortlich für den Holocaust und alle andere Verbrechen, die von Ihnen begangen wurden. Sie tragen ebenfalls Schuld daran, dass es zu den Bombenangriffen auf Bochum, Essen, Hannover, Hamburg und Berlin kam. Ich denke allerdings, dass es mehr betont werden sollte, dass der Krieg ein grausames Erlebnis, so wie für Millionen Menschen auf ganzer Welt, auch für Deutsche war.“

M3. Interview "Im Gedächtniswohnzimmer" Harald Welzer, 25. März 2004.

"[...]

Harald Welzer: [...] In den privaten Erinnerungen entsteht ein anderes Bild von Vergangenheit als im offiziellen kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik. Im privaten Gedächtnis dominieren die Bombenkriegserfahrung, der Hunger, die Erfahrungen der Kriegsteilnehmer, die Geschichte als Opfer und das Ringen um persönliche Integrität. Diese Erinnerungen haben einen vitalen und konkreten Charakter, sie sprechen die Gefühle an. Auch Sachbücher wie Jörg Friedrichs Bombenkriegsepos Der Brand oder der Bericht über die Massenvergewaltigungen durch die Anonyma berühren das Publikum, weil sie die Gefühlsebene ansprechen und weil das Leiden der deutschen Bevölkerung im Zentrum steht.

ZEIT: Worin liegt der Unterschied zur öffentlichen Erinnerungskultur?

Welzer: In deren Zentrum steht Auschwitz. Die Würdigung der Opfer, die Frage nach angemessenen Formen des Gedenkens. Sie sollen auf unser Wissen einwirken, sollen uns kognitiv klüger machen [...].

Die Geschichten der Familienerinnerung, wie wir sie in unseren Forschungen zusammengetragen haben, sind unscharf, insofern sie die handelnden Personen, die Orte des Geschehens, die exakte Zeit aussparen. Ihnen sind die Gefühle des Handelnden wichtig. Wenn wir die Generationen einer Familie zum Gespräch zusammensetzen, scheint niemand am Tisch das Bedürfnis zu haben nachzufragen: Wo war das genau, wann? Und wer war’s? Die Hauptperson soll als moralisch handelnde und fühlende Person erscheinen, damit der Enkel sich fragen kann: Hätte ich auch so gehandelt? Diese Form des Gedächtnisses stärkt nicht nur die Familie als Erinnerungsgemeinschaft, sondern sie stillt auch die Sinnbedürfnisse der Nachkommen [...].“

Quelle: http://www.zeit.de/2004/14/st-welzer?page=1

Der Brand: Ein 2002 erschienenes Buch von Jörg Friedrich, das die Bombardierung der deutschen Städte thematisiert. In der nach dem Erscheinen des Buches ausgelösten öffentlichen Diskussion wurde dem Autor vorgeworfen, dass er sich hauptsächlich auf die technischen Details der Bombenangriffe und das Leid der deutschen Bevölkerung konzentrierte und dabei den Zusammenhang des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieges aus dem Auge verlor.